Vertical Farming - Wissenschaftler, Architekten und Unternehmer wollen in Hochhäusern ressourcenschonend und hocheffizient Lebensmittel produzieren. Ihre Visionen scheitern an der Realität. Dabei funktioniert das Grundprinzip in jeder Küche.
Bis 2050 ist die Weltbevölkerung voraussichtlich auf etwa zehn Milliarden Menschen angewachsen. „Landwirte müssten eine Milliarde Hektar Land zusätzlich unter den Pflug nehmen, um derart viele Menschen ernähren zu können. Das ist eine Fläche 20 Prozent größer als Brasilen. Dabei sind heute schon über 80 Prozent der weltweiten Landfläche, auf der Getreideanbau möglich ist, kultiviert“, warnt Dickson Despommier von der Columbia University in New York.
Der bärtige Mikrobiologe sieht die Zukunft der Landwirtschaft deshalb in der Großstadt. Despommier gilt als geistiger Vater des Vertical Farming. Die Nahrungsmittelproduktion soll demnach künftig in gläsernen Wolkenkratzern stattfinden, die genau auf die Bedürfnisse der jeweiligen Pflanze zugeschnitten sind. Längst haben sich weltweit Forscher und Unternehmer dieser Vision verschrieben.
Reis aus dem Hochhaus
So könnte Reis in 30-stöckigen Hochhäusern angebaut werden. Das jedenfalls sehen Pläne der beiden Agrarwissenschaftler Joachim Sauerborn und Folkard Asch von der Universität Hohenheim vor: Die Pflanze könnte in diesem gigantischen Gewächshaus 365 Tage im Jahr völlig unabhängig von Jahreszeiten und Wetter wachsen – geschützt vor Schädlingen und Krankheiten. Auf einem Transportband würde der Reis durch das Gebäude wandern. Im Sekundentakt mit einer Nährlösung besprüht, kämen sie nach 120 Tagen reif in der obersten Etage an.
Aber sehr viel mehr als ein hüfthohes Hochhaus-Modell haben die beiden Forscher bisher nicht in die Tat umgesetzt. Zu viele Fragen sind noch offen. „Einen ersten Prototyp könnten wir frühestens in zehn bis 15 Jahren bauen“, sagt Sauerborn.
Kartoffeln aus dem Atomkraftwerk
Im schwedischen Linköping geht es anscheinend schneller voran. Dort feierte die Firma Plantagon Anfang 2012 den Spatenstich für das weltweit erste Gewächs-Hochhaus. Die Firma will in dem 60 Meter hohen Gebäude Blätterkohl anbauen, ein Gemüse aus Fernost. Mit den Arbeiten geht es aber nicht voran. Die Baugenehmigung fehlt.
Ohne teure Neubauten kommen hingegen die Vorstellungen anderer Wissenschaftler aus: So will der Gemüsebau-Professor Fritz-Gerald Schröder von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden leerstehende Hochhäuser und Fabrikhallen bepflanzen. Projektgelder hat er dafür aber bisher nicht bewilligt bekommen.
Auch die Vision von Susanne Hügel ist bisher nicht in die Tat umgesetzt. Die angehende Architektin von der Universität Stuttgart ist in ihrer Diplomarbeit der Frage nachgegangen, wie Kartoffeln in stillgelegten Atomkraftwerken angebaut werden können.
Kombinierte Fisch- und Tomatenzucht
Dass der Pflanzenbau auch ohne die Natur funktionieren kann, beweist ein Forschungsprojekt am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Dort hat Werner Kloas ein Verfahren entwickelt, mit dem Buntbarsche und Tomaten in einem Gewächshaus ressourcensparend und unter nahezu emissionsfreien Bedingungen gezüchtet werden können.
In dem geschlossenen Kreislauf nehmen die Tomaten das nährstoffreiche Abwasser aus der Fischzucht als Dünger auf. Dabei reinigen sie das Wasser, das dann wieder ins Fischbecken geleitet wird. Eine Kühlfalle fängt das Wasser ab, das durch die Pflanzenporen verdunstet. Deshalb kommt die Anlage mit einem Minimum an frischem Trinkwasser aus.
Gemüsebau in Küche und Bad
Aquaponik heißt diese Kombination aus Aquakultur (Fischzucht) und Hydroponik (Pflanzenzucht mit nährstoffreichem Wasser) – und eigentlich sind dafür weder gläserne Hochhäuser noch verlassene Fabrikhallen nötig. Aquaponik funktioniert in jeder Küche.
Wie, hat Star-Designer Werner Aisslinger im Frühling 2013 im Haus am Waldsee in Berlin vorgeführt. Seine Vision „Kitchen Farming“ war damals Teil seiner Ausstellung „Home of the Future“: In einem gewächshausartigen Regalbiotop baut Aisslinger verschiedene Gemüsesorten an, die mit Fischexkrementen gedüngt werden. Pilze züchtet er auf Kaffeesatz.
Auch das Bad könnte zu einem Ort der nachhaltigen und ressourcenschonenden Lebensmittelproduktion werden. Mit Feuchtigkeit absorbierenden, umkrempelbaren und weichen textilen Bad-Elementen speichert Aisslinger den Wasserdampf, der beim Duschen entsteht. Er wird dann an Pflanzen weitergeleitet. haw